Was völlig paradox klingt, ist eine Erfahrung, die viele Menschen machen: ICH will das doch überhaupt nicht, aber ES GEHT NICHT ANDERS /oder: ES PASSIERT EINFACH immer wieder! Oft gilt dieser Stoßseufzer nur einem bestimmten Verhaltensmuster. Manchmal ist dieses Paradox aber auch so etwas wie das „Drehbuch für das eigene Leben“! So manches Mobbing-Opfer findet sich in neuer Umgebung in einer altbekannten Lage wieder: Als „Schwarzes Schaf“, das von den anderen ausgeschlossen wird. Und aus Frauenhäusern ist das Phänomen bekannt, dass manche Frauen wieder zurück gehen zu ihren gewalttätigen Partnern – obwohl sie ihnen bereits entkommen und in Sicherheit waren!
Wie lässt sich so ein Feststecken in der Opferrolle eigentlich erklären? Und vor allem: Wie lässt es sich verändern? Betroffene glauben meist, dass so etwas NIE MEHR ANDERS werden könne …
Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Doch, das geht! Aber WIE geht es?
Der erste Schritt besteht darin, dass so ein Lebensmuster wirklich bewusst wird: Im Konflikt zwischen dem Teil, der ICH sagt, und dem ES, den unbewussten Anteilen, sitzt das ES immer ‚am längeren Hebel‘. Gesteuert von instinktiven Reaktionen aus unserem UR-HIRN in Stamm- und Mittelhirn, dem „SYSTEM 1“ (Daniel Kahneman), reguliert es den gesamten Organismus. Im UR-HIRN liegt auch das Gefühlshirn mit seinem Speicher für soziales Lernen durch wichtige emotionale Erfahrungen. Hat sich hier in früher Kindheit die Opferrolle als neuronales Muster verfestigt, macht SYSTEM 1 dies zur erlernten GEWOHNHEITS-WIRKLICHKEIT: Wird z.B. das Trauma früher Gewalterfahrung reaktiviert, ‚getriggert‘ (von außen oder durch eigene Gedanken), dann sind wir wieder wie früher im „SCHMERZKÖRPER“ (Eckhard Tolle), egal wie alt wir heute sind.
Solche unwillkürlichen Prozesse sind zwar nicht direkt veränderbar, jedoch beeinflussbar durch das vernünftig denkende Großhirn, „SYSTEM 2“ (Kahneman): Unser ganzes Gehirn ist „plastisch“, es kann ein Leben lang dazulernen und sich verändern. Auch das Muster einer lange bestehenden GEWOHNHEITS-WIRKLICHKEIT lässt sich VERÄNDERN, ganz egal wie alt jemand ist. Für eine bessere Selbstregulation muss SYSTEM 2 allerdings das problematische Muster erst einmal verstehen und wissen, in welchem KONTEXT feste neuronale Muster wie die „Opferrolle“ entstehen.
Die Transaktionsanalyse (TA) erklärt es so:
Alle kleinen Kinder wollen von ganzem Herzen mit ihren Eltern / ihrer Familie / Gruppe kooperieren und dafür Anerkennung und Liebe von ihnen erhalten. Bekommen sie (gefühlt) nicht genug Aufmerksamkeit und Lob, geben sie sich dafür oft selbst die Schuld. Ein typischer kindlicher Lösungsversuch ist dann, sich noch viel mehr anzustrengen, es anderen noch mehr recht machen zu wollen, um dadurch Liebe zu bekommen. So können die „Antreiber-Glaubenssätze“ entstehen. (Siehe dazu: SEI PERFEKT! Vom Umgang mit inneren Antreibern)
Ähnliches gilt auch für die Rolle des „Opfers“: Erlebt ein Kind ständig Schuldzuweisungen (z.B. „Ohne Dich ginge es mir gut“), wird es oft mit Liebesentzug bestraft („Jetzt bist Du nicht mehr mein Kind“) oder erleidet es andauernd körperliche Gewalt oder Zwang, dann ist ein typischer kindlicher Lösungsversuch, die zugewiesene negative Rolle aktiv zu übernehmen, um zumindest auf diese Art ein „braves Kind“ zu sein.

Im Kontext des Systems, in dem ein Kind heranwächst, wird dieses „Sich-Einrichten im Leid“ deshalb verständlich als TREUE-LEISTUNG DES KINDES FÜR DIE ELTERN / FAMILIE/ GRUPPE (und nicht als pathologischer „Wiederholungszwang“, wie Freud geurteilt hat).
Ist solch unbedingte LOYALITÄT dann zum „DREHBUCH FÜR DAS EIGENE LEBEN“ geworden, verharrt das ES in dieser kindlichen Abhängigkeit. Weil es sich nur so „zuhause“ und „sicher“ fühlt, verweigert es auch energisch jegliche Veränderung! (Anmerkung: Systemisch gesehen sind auch der Drang, negative Aufmerksamkeit zu erregen, oder der Wechsel von der Opfer- zur Täterrolle, die „Identifikation mit dem Aggressor“, Variationen des „Opfer“-Themas).
Eine familiäre Ablösung, die sonst mit der Pubertät beginnt, hat nicht (ausreichend) stattgefunden. Dieser wesentliche Schritt in ein eigenständiges Leben muss nachgeholt werden. Dazu reicht es oft schon aus, die Loyalitätsbeziehung zum „Täter“ endlich ans Licht zu holen, um den inneren Widerstand zu mobilisieren: „Will ich es XYZ wirklich gönnen, ihm/ihr mein gesamtes Leben zu widmen?“ So entsteht die nötige Motivation für den Veränderungsprozess.
Ist das kindliche Bedürnis hinter dem problematischen Muster erkannt, dann muss es unbedingt gewürdigt werden: Die ersehnte Anerkennung war ja der Antrieb! Von den Erwachsenen, die einst dafür verantwortlich gewesen wären, kommt sie nicht (vielleicht leben sie nicht einmal mehr). Sie muss heute von dem/der Erwachsenen kommen, der/die man selbst ist – aus dem SYSTEM 2:
Die Aufgabe für das bewusste Denkvermögen lautet also, SICH SELBST ANZUERKENNEN für den übergroßen Einsatz im Dienste der Herkunftsfamilie! So wird der innere Konflikt zwischen ICH und ES befriedet, denn das Gefühlshirn erhält nun endlich positive Rückmeldungen (vom Großhirn).
Durch wachsendes SELBST-VERTRAUEN verliert das alte Muster allmählich sein destruktives Potenzial, was sich auch gesundheitlich segensreich auswirkt. SYSTEM 1 reagiert nämlich von Natur aus auf jede Art von „Opfer-Erleben“ mit der biologischen Stress-Reaktion! Ein Verharren im Opfermodus = toxischer Dauerstress mit seinen tiefgreifenden Auswirkungen auf den Organismus. (Siehe auch: Was die STRESS-Reaktion in uns auslöst)
Innere Entlastung und Entspannung wirken sich ebenso nachhaltig in der sozialen Interaktion aus: Wer die Opferrolle hinter sich lassen kann, sendet auch keine unbewussten Einladungen mehr an andere Menschen. Denn eine der wichtigsten Fähigkeiten ist uns fast unbekannt: Wir können anderen Menschen quasi ‚in den Kopf gucken‘ – und andere uns! (Siehe dazu: Wieso andere unsere wunden Punkte kennen)
Bildquelle: Pixabay
In meinem Blog kann ich nur allgemeine Informationen geben.
Zur individuellen Beratung nehmen Sie bitte Kontakt zu mir auf.
______Info über neue Beiträge gewünscht? Bestellung siehe unten _____